Wie das System unsere Kinder zerstört
Ist das, was wir „Kindheit“ nennen, noch die Kindheit, die wir vor 50 etc. Jahren kannten? Oder hat sich auch hier einiges geändert, zum Besseren oder nicht so Guten?
Ein Beitrag des Focus [1] zitiert hierzu den „Kindheitsforscher“ (Michael Hüter), der behauptet, dass unser System unsere Kinder kaputt macht.
Was sind die hauptsächlichen Kritikpunkte, die dieser Forscher ins Visier genommen hat?
„Kindern geht es so schlecht wie nie zuvor in der Geschichte“
Die ersten Lebensjahre sind die kostbarsten Lebensjahre, die zu einem signifikanten Anteil bestimmen, wie das Kind sich später zu welchem Erwachsenen entwickelt. Hier werden elementare Weichen gestellt, die die Persönlichkeit des Heranwachsenden nachhaltig formen.
Dazu zählen soziale Kompetenz, Stressbewältigung, Lernfreudigkeit, Zufriedenheit, Glück und Glücksempfindungen, Freundschaft, Partnerschaft und vieles mehr. Dies alles wird in der Kindheit „trainiert“ und entwickelt. Was dazu notwendig ist, das ist kein bürokratischer Apparat, der Schulen und andere erzieherische Institutionen aufbaut, in dem Kinder nicht geschult, sondern mehr dressiert werden, um zu funktionalen Bürgern zu werden, zu den kleinen funktionierenden Rädchen im Getriebe des Systems.
Liebe, Zuneigung, Geduld und Respekt vor Kindern sind die unerlässlichen Zutaten für eine gesunde Entwicklung eines Kindes. Aber genau hier zeichnet sich unsere Gesellschaft als ein „Entwicklungsland ohne Entwicklung“ aus. Die langsame Zerschlagung der Familie in der modernen Gesellschaft gibt keinen Raum mehr für Geduld, Respekt, und zu wenig Raum für Zuneigung und Liebe. Wir haben einfach keine Zeit mehr, unsere Kinder zu lieben.
Und weil wir so wenig Zeit haben, deswegen hat der Staat Kindergärten, Ganztagsschulen und andere Institutionen in die Welt gesetzt, die mit wenig Personalaufwand das leisten sollen, was sonst eine Familie für ihre Kinder bereitgestellt hat.
Wie viel Geduld, Liebe, Zuneigung etc. kann eine Kindergärtnerin ihren 30 Kindern zukommen lassen?
Wie viel Geduld, Liebe, und Zuneigung können Eltern ihren Kindern zukommen lassen, wenn sie sie kaum noch zu Gesicht bekommen, da die oberste Priorität die Arbeit und das Funktionieren in der Gesellschaft ist?
Kinder werden heute schon früh trainiert, dass niemand für sie Zeit hat. Sie lernen damit umzugehen. Und sie lernen, dass dies wohl eine natürliche Angelegenheit ist, die man später im Erwachsenenalter ebenfalls sich zu eigen zu machen hat.
Keine Zeit für die eigenen Kinder, aber auch keine Zeit für die eigenen Eltern, die in jungen Jahren keine Zeit für die eigenen Kinder gehabt hatten. Kein Wunder also, wenn die Altenheime voll sind mit alten Bewohnern, die selbst zu Weihnachten vergebens auf Besuch ihrer Kinder warten.
Wenn ich keine Zeit für meine Kinder habe, dann darf ich nicht erwarten, dass die später Zeit für mich haben. Auch die Ausrede, dass man das ja alles nur für die Kinder getan hat, zieht hier nicht. Kinder wollen keine Eltern, die „alles für sie tun“, sondern Eltern, die für sie da sind. Aber das scheint heute nicht mehr ganz so leicht zu sein.
Damit ist der Boden bereitet für eine nicht mehr altersgemäße Entwicklung, da den Kindern ein kindgerechtes Aufwachsen genommen wird. Und Grundlage dafür ist nicht zuletzt auch in unserer Evolution zu suchen.
Ein Vergleich mit der Tierwelt, besonders mit Primaten, zeigt, dass Eltern, zumindest aber die Mutter, für die Entwicklung des Kindes eine zentrale Schlüsselfunktion einnimmt. Fehlen diese oder sind zeitlich nur begrenzt verfügbar, ist das Risiko für psychische Fehlentwicklungen deutlich erhöht. Die Betreuung in Kitas (Fremdbetreuung) ist auch nicht im entferntesten in der Lage, ein adäquater Ersatz für eine Familie zu sein, sondern mehr ein Abstellplatz für zeitraubende Kinder, die möglicherweise noch dem beruflichen Erfolg im Wege stehen.
Für Michael Hüter sähe die bessere Lösung so aus, die Familien zu unterstützen, statt das Geld in Betreuungsanstalten zu investieren. Seine Einschätzung der Situation:
„Wir verheizen die wenigen Kinder, die wir noch haben, in ein defizitäres Bildungs- und Betreuungssystem, damit die Eltern für wenig Geld viel arbeiten können, nur um ein Wirtschaftssystem aufrechtzuerhalten, das zum Scheitern verurteilt ist“.
Die Schule – ein Hort der Verlogenheit
Statt Kinder zu fördern ist die Schule ein Ort, an dem Kinder dressiert werden. Schlechte Noten werden verteilt, wenn das Kind sich nicht konform verhält. Der damit verbundene Stress in so jungen Jahren ist mit beteiligt an der Entwicklung von Entwicklungsstörungen und irrationalen Ängsten. Kein Wunder, wenn viele Kinder keine Lust am Lernen haben. Für sie ist Lernen immer unterschwellig verbunden mit Bestrafung, Versagen und anderen negativen Assoziationen.
Hinzu kommt die quälende Langeweile bei dem, was von der Schule verlangt wird. Die Langeweile ist nur deshalb dar, weil hier Fähigkeiten entwickelt werden sollen, die mit den Bedürfnissen der Kinder überhaupt nichts zu tun haben. Das, was dann an Bedürfnissen den Kindern unterstellt wird, sind abstrahierte Konstrukte, die man keinem Kind verständlich machen kann. Und wo das Verständnis fehlt, da muss mit Gewalt und Druck dem Kind klargemacht werden, dass das jetzt seine Bedürfnisse zu sein haben.
Kein Wunder auch hier, wenn in einer Befragung der Universität Bielefeld deutlich wird, dass jedes 6. Kind und jeder 5. Jugendliche in Deutschland unter signifikantem Stress leiden.Zwei Drittel dieser Kinder und Jugendlichen leiden unter Schmerzen und Schlafstörungen – klassische Symptome für einen Burnout.
Und weil die Eltern wollen, dass ihre Kinder es einmal besser haben und dafür das Gymnasium und dann die Universität besuchen müssen, wird ihnen das entsprechende Verhalten und Lernverhalten eingebläut. Das, was Kinder in ihrer Kindheit am meisten brauchen (neben Liebe, Zuneigung, Geduld, Respekt etc.), das ist Zeit für die Eigenentwicklung, die mit dem Spielen einhergeht.
Spielen wird in unserer Gesellschaft als überflüssiger Zeitvertreib angesehen, was auch für Kinder zu gelten hat. Aber das Spielen ist die natürliche Art und Weise, wie Kinder die Welt am besten erfassen und damit erlernen können. In unserer Gesellschaft steht das Spielen am unteren Ende der Prioritätenliste („erst die Arbeit, dann das Spiel“). Lernen und andere Herausforderungen der Erwachsenenwelt sind für Kinder Fremdbestimmung und wesensfremd. Die Reaktion der Kinder darauf sind Aggressionen, Langeweile und später Verhaltensstörungen.
Wie sehr das Spielen bei Kindern gedrosselt wird, das zeigen Statistiken, denen zufolge Kinder in den USA heute „12 Stunden pro Woche weniger Freizeit als Kinder in den achtziger Jahren haben.“ Früher wurde viel draußen an der frischen Luft gespielt. Da das Spielen keine vorrangige Bedeutung hat, entfällt auch die Notwendigkeit, das Haus zu verlassen.
Diese „Stubenhocker Krankheit“ ist Ursache dafür, dass Kinder kaum noch Tageslicht sehen, sondern bestenfalls gedämpftes oder künstliches Licht. Der damit verbundene Stress für die Augen erhöht das Risiko für Kurzsichtigkeit, ebenfalls ein deutlich zunehmendes Phänomen unter Kindern. Ganztagsschulen und danach noch Hausaufgaben sorgen dafür, dass Kinder praktisch keinem Sonnenlicht mehr ausgesetzt sind. Es wäre in diesem Zusammenhang auch einmal interessant, Vitamin-D-Spiegel bei Kindern zu messen.
Stress und noch mehr Stress
Als wenn wir nicht schon genug Untaten für unsere Kinder bereithalten würden. Eine Weitere ist die Zeitumstellung auf „Sommerzeit“, die nicht nur Erwachsenen eine Stunde Schlaf raubt, sondern gerade die betrifft, für die Schlaf noch wichtiger ist als für uns Erwachsene. Wenn dann auf einmal die Schule zwar laut Wecker um 8:00 Uhr beginnt, aber laut biologischer Uhr immer noch auf 7:00 Uhr steht. Das Schlafdefizit, dass mit dieser Maßnahme verursacht wird, ist nicht nur unnötig, sondern hat physiologische und psychologische Konsequenzen.
Denn jetzt wird von müden Kindern verlangt, dass sie sich voll auf die Unterrichtseinheiten konzentrieren, ein Kunststück, das selbst die Erwachsenen kaum in der Lage sind fertig zu bringen. Neben dieser Qual – man könnte schon fast sagen „Folter – gibt es sogar finanzielle Gründe, diesen Schwachsinn fallen zu lassen und es ganzjährig bei der Normalzeit bleiben zu lassen. Laut einem Beitrag des „Stern“ gibt es amerikanische Studien, die gezeigt haben, dass der amerikanische Staatshaushalt innerhalb von 2 Jahren fast 9 Milliarden USD einsparen könnte, wenn der Unterrichtsbeginn auf 8:30 Uhr verlegt werden würde.
Andere Untersuchungen laut „Stern“ (Späterer Schulbeginn würde dem Staat Milliarden einsparen | STERN.de) zeigen in die andere Richtung: Je früher der Schulbeginn, desto geringer ist die Leistungsfähigkeit der Schüler.
Grund für dieses Szenario liegt wieder einmal in der Biologie des Menschen. Vor allem in der Pubertät, wo es zu einer hormonellen Umstellung kommt, besteht die Tendenz, viel später einzuschlafen als zu Kindeszeiten und im Erwachsenenalter. Mit der Aktivierung der Sexualhormone kommt es zu einer Verzögerung der Ausschüttung von Melatonin und damit zu einer Verschiebung des Schlafrhythmus mit späteren Einschlafzeiten (Die Schule beginnt zu früh, Klassenzimmer sind zu dunkel). Dementsprechend länger schlafen pubertierende Jugendliche in den Morgen hinein, um entsprechend ausreichend Schlaf zu erhalten. Eine Vorverlegung der Schulzeit, auch um nur eine Stunde, ist eine chronobiologische Katastrophe für den Organismus dieser Kinder.
So wird aus der „Sommerzeit“ eine Folterzeit.
Fazit
Alle Zeichen stehen auf der Vernichtung unserer Kinder, die bereits in jungen Jahren zu kleinen Erwachsenen gemacht werden sollen. Grund dafür ist eine Gesellschaft, die sich ausschließlich an materiellen Werten orientiert und ideelle Werte bestenfalls als Gefühlsduselei abwertet.
Die am meisten Leidtragenden sind wieder einmal die, die sich nicht wehren können: Kinder und alte Menschen.
Quellen:
[1] Kindheitsforscher warnt eindringlich: „Jedes zweite Kind ist in Gefahr“ – FOCUS Online